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Spielt, spielt, sonst sind wir verloren! 

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Kritzeln mit Glas

Irgendwo zwischen politischen Konflikten, Klimawandel und Corona-Pandemie, klopft er wieder einmal an meiner Türe, dieser eine, altbekannte Gedanke. Ich sitze gerade in meiner Werkstatt auf einem Planeten, der durch das Universum rauscht und frage mich: Was ist eigentlich meine Rechtfertigung, tagtäglich hier zu sitzen, meiner Arbeit, meinem „Glasperlenspiel“ [2], nachzugehen und damit eigentlich nichts an dieser Situation zu ändern? Immerhin baue ich keine Häuser über jemandes Kopf und ich sorge mit meiner Arbeit auch nicht für die große Gerechtigkeit in der Welt.

Und während die Wogen dieser Mini-Sinnkrise mich packen, klammere ich mich an Austin Kleon´s Buch „Keep going: 10 ways to stay creative in good times and bad“ [3], als wäre es mein Floß in den Stromschnellen des Lebens.Panta Rhei eben [4]. Oder taoistisches „Going with the flow“[5].

Und stimmt, ist es denn wirklich meine Aufgabe, die Welt zu retten? Oder ist es meine Aufgabe, aus jedem Tag das Beste zu machen, meiner Arbeit, meiner Leidenschaft, mit ganzem Herzen nachzugehen – und vor allem, ist es nicht der Sinn meiner Arbeit zu spielen? Ich teile die Meinung, dass jeder Mensch ein Künstler ist [6], wenn nicht sogar jedes Wesen [7]. Jedes Kind auf jeden Fall, bevor die Welt dem Kind etwas anderes sagt.

Da stolpere ich also über Austin Kleons Worte, dass es wohl die Aufgabe eines Künstlers sei, zu spielen wie es die Kinder tun, losgelöst von jeglichem Perfektionismus, losgelöst von Social Media-Statistiken, losgelöst von finanziellem Druck [8], zu spielen um des Spielens Willen. Während ich seinen Text lese, malt sicherlich irgendwo gerade ein Kind voller Leidenschaft die Möbel seiner Eltern an. Das ist also wahre Kunst [9]!

Wann haben Sie das letzte Mal einfach darauf losgekritzelt?

Wann haben Sie das letzte Mal gelacht, bis Ihnen der Bauch wehtat? Wann sind Sie das letzte Mal einen Hügel runter gekullert? Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Zimmerpflanze gestreichelt? Wann haben Sie das letzte Mal etwas getan, ohne dass dabei ein bestimmtes Resultat im Fokus stand [10]?

Vielleicht ist genau das die Aufgabe dessen, was ich tagtäglich tue: Den/die ein oder andere*n von Ihnen jetzt, in diesem Augenblick, in den unendlichen Weiten unserer Medienlandschaft zum kurzen Anhalten, Lesen und Schmunzeln zu bewegen. Vielleicht können Sie mit diesem Text wieder einen kurzen Moment lang die Welt aus den Augen eines Kindes betrachten. Vielleicht ist das aber auch wieder ein viel zu hoch gestecktes und auf Effizienz gerichtetes Ziel. Vielleicht muss es überhaupt gar keinen Sinn ergeben.

Und dann ist da ja noch dieses „This too shall pass.“. Wir befinden uns immerhin mitten im menschengeschaffenen, sechsten Massenaussterben, von dem eine Million Arten betroffen sind [11]. Mit diesen Arten werden auch die Politiker gehen, die Konzerne, die unsere Gewässer verschmutzen - jeder von uns wird gehen. Und wir werden hoffentlich Platz machen für neue, wertvolle Lebensformen. Bis dahin dürfen wir die schönen Augenblicke des Lebens genießen. Am Ende wird bekanntlich alles gut und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende [12].

Auch schön irgendwie.

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[1] Abwandlung von Pina Pauschs berühmten Ausspruch „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“. 

[2] Hermann Hesses Buch „Glasperlenspiel“ habe ich nach jahrelanger Prozedur endlich durchgelesen. Das Buch ist zu schön und zu sinnlos zugleich.

[3] Austin Kleons Buch voller Inspiration ist jedem ans Herzen zu legen, der im kreativen Schaffen das Gefühl hat, irgendwie nicht vorwärts zu kommen.

[4] Panta Rhei (πάντα ῥεῖ, „alles fließt“) ist eine philosophische Lehre, die auf Heraklit, bzw. Platon zurückgeht und den Fluss des Lebens beschreibt. Die Ereignisse des Lebens fließen, Zeit fließt, Gedanken fließen und, ach ja, Glas fließt auch. Am liebsten würde ich mir diese Phrase auf die Stirn tätowieren lassen.

[5] Eines meiner Lieblingsbücher zu dem Thema Taoismus ist „Tao: The Watercourse Way“ von Alan Watts und Al Chung-Liaang Huang. 

[6] Joseph Beuys wandelte Novalis´ Zitat „Jeder Mensch kann ein Künstler sein.“ zum Kunstbegriff-prägenden „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ um. Damit haben sich auch die Grenzen der Kunst immer weiter geöffnet. Wo fängt Kunst an? Wo hört Kunst auf?

[7] Haben Sie schon einmal die wunderschönen Muster gesehen, die Kugelfische im Zuge des Balzverhaltens mit ihren Flossen in den Sand zeichnen?

[8] Ist Kunst wirklich dazu da, davon leben zu können? Darf man Kunst denn tatsächlich für finanzielle Zwecke „prostituieren“? 

[9] Da wird der kleine Künstler also ganz unabsichtlich selbst zur Inspiration. Das dritte Newtonsche Gesetz „Actio gegengleich Reactio“ lässt sich vielleicht von der Physik auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Alles, was man tut, hat Auswirkungen. Oder ist das eher wie ein kleiner Tropfen ins Wasser, der in Folge an der Oberfläche immer weitere Kreise zieht?

[10] Ich habe das alles ganz fleißig letztes Wochenende auf meiner To-Do-Liste abgehakt, wie sich das gehört. 

[11] Wer mehr dazu wissen möchte, hier ein kleiner Link:

https://www.nationalgeographic.de/umwelt/2017/03/wird-die-menschheit-das-sechste-grosse-massenaussterben-ueberleben. Wir sollten uns unserer Verantwortung und der Macht unseres Verhaltens im Alltag bewusst sein.

[12] Scheinbar weiß niemand so recht, wo dieses Zitat herkommt. Oft wird es dem irischen Autor Oscar Wilde zugeschrieben. Da bin ich jetzt irgendwie überrascht, ich dachte, das käme aus Astrid Lindgrens Feder.

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